Richard Haynes

ghosts of motion (2021)

Artikelnummer CR374

CD Edition

 

Veröffentlicht am 15. Januar 2021

Über «ghosts of motion»

Weltersteinspielungen von zeitgenössischen Solowerken für Klarinette d'amore in G: ein Instrument, das erst seit kurzem eine erfolgreiche Renaissance erlebt. Mit einem erweiterten Tonumfang, einem modernen Klappenmechanismus und Fähigkeiten, die aus mehr als zwei Jahrzehnten der Zusammenarbeit zwischen Komponisten und Interpreten stammen, offenbart dieses Album ein Mitglied der Klarinettenfamilie, das bisher in den Bereich der historischen Aufführungspraxis verbannt war. "ghosts of motion" ist ein starkes Argument dafür, warum das Repertoire für Klarinette d'amore weiter entwickelt werden sollte und warum das Instrument selbst innerhalb einer relativ großen Familie höchst individuell ist.


Es war Sommer 2016, als ich den Anruf entgegennahm, der letztlich den Anfang dieses Projekts markierte. Samuel Andreyev, Komponist, Autor, ebenfalls Holzbläser und gleichermassen an weniger bekannten Instrumenten interessiert, schlug mir die Idee einer modernen Klarinette d’amore vor, welche mit dem erweiterten Tonumfang eines Bassettinstruments ausgestattet sein sollte. Es bestand eine Lücke in einer Instrumentenfamilie, in welcher schon bei der Benennung der verschiedenen Instrumente eine verwirrende Terminologie herrschte. Technologische Fortschritte haben die traditionellen Stimmungen einzelner Klarinetten ziemlich unwichtig gemacht : wir können fast alles auf fast allen Klarinetten spielen, warum also ein neugestaltetes Instrument? Nun, es geht um den Charakter des Klangs.

Die Klarinette d’amore erlebte Popularität in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Während dieser Zeit bemühten sich die Klarinettenbauer Westeuropas, viele verschiedene neue Modelle zu bauen, fast alle davon Träger der visuellen Merkmale eines eiförmigen (im Gegensatz zum trichterförmigen) Schallbechers und eines gebogenen Instrumentenhalses. Durch die Untersuchung vorhandener Klarinetten d’ amore in Museen und privaten Sammlungen konnten wir Verschiedenheiten in Stil und Bau identifizieren und genau definieren, was die Klarinette d’amore von ihren Geschwistern der Zeit unterschieden hat. Wir verglichen sie mit Sopranklarinetten, Bassettklarinetten, Bassetthörnern und Altklarinetten, welche allesamt in verschiedenen Stimmungen existierten.
Die Gründe für das allmähliche Verschwinden der Klarinette d’ amore lagen hauptsächlich bei den Anforderungen an die akustischen Eigenschaften von Holzblasinstrumenten in der Romantik und dem entschiedenen Erfolg des Bassetthorns.
Die Klarinette d’ amore war ein relativ leises Instrument mit einer schmalen Bohrung, kleinen Tonlöchern und einem Schallbecher, der dem Instrument einen gedeckten, hölzernen Klang verlieh. Sie war populär im Kontext der Salonmusik und stand sogar selten im Rampenlicht einiger Werke für Orchester. Das Bassetthorn dagegen erlebte viel Aufmerksamkeit, nicht nur wegen seiner Assoziation mit den Freimaurern und mit dem einflussreichen Männertrio*, welches dem Instrument zu Ruhm verhalf, sondern auch wegen seines erweiterten Tonumfangs, der ermöglichte, jede Stimme in einer klassischen Triobesetzung übernehmen zu können.

Während im 18. und 19. Jahrhundert seitens der Komponisten Verwirrung in Bezug auf Tonumfang und Stimmung sowohl der Klarinette d’amore als auch des Bassetthorns herrschte, sind die modernen Eigenschaften dieser Instrumente nicht länger auswechselbar und das Repertoire hat sich — nicht zuletzt dank Karlheinz Stockhausen — dementsprechend entwickelt. Es bestehen Werke für Klarinetten in G und/oder Klarinetten d’ amore, welche auf modernen, vollzylindrischen Instrumenten gespielt werden könnten, ohne auf Transkriptionen für Bassetthorn zurückgreifen zu müssen.

Die Klarinette d’amore verschwand aus begreiflichen Gründen, ist aber ein Instrument, welches heute dank der wandelnden und diversifizierenden Konzertkultur eine erfolgsversprechende Renaissance erleben kann. Die Konzertszene ist nicht mehr nur von Orchestern dominiert : Kammermusik, insbesondere die facettenreichen Ensembleformen, die dank innovativen Komponisten und Interpreten ins Leben gerufen werden, sind fruchtbarer Grund, auf dem Repertoire für und mit Klarinette d’amore wachsen kann. Mit der Auftragsvergabe dieses Instruments bei den Klarinettenherstellern Schwenk & Seggelke hoffe ich, dass die Klarinette d’ amore wieder ihren Platz in der Konzertkultur und der Klarinettenfamilie einnehmen kann. Die dunklere, schattige Seite des Klangspektrums, der Tonumfang und das Angebot an technischen Möglichkeiten werden erweitert und dadurch auf gleiche Ebene mit den modernen technologischen Innovationen gängiger Klarinetten gesetzt. Ich sehe mich in der Verantwortung, wieder einen Kontext für Musik für Klarinette d’amore aufzubauen und damit einen Fokus auf die Individualität dieses Instruments zu setzen. So wie im Laufe der Geschichte,
so ist es noch heute: es bedarf eines Interpreten, um die Erschaffung neuer Werke anzuspornen, welche die Zeit überdauern. Ich hoffe dies mit der Klarinette d’ amore und einer noch vollständigeren Klarinettenfamilie zu bewirken

Richard Haynes, Dezember 2020

ghosts of motion - Chris Dench

Carica d'amore - James Gardner

Schattenlinie - Matthias Renaud

...süsses Unheil... - Walter Feldmann

A Line Alone - Samuel Andreyev

huso huso - Jonah Haven

incubation - Sean Quinn

Über Richard Haynes

Richard Haynes ist bei vielen der wichtigsten australischen, amerikanischen und europäischen Festivals für klassische und zeitgenössische Musik als Solist, Kammer- und Orchestermusiker aufgetreten, darunter die internationalen Kunstfestivals von Adelaide, Brisbane, Melbourne, Perth und Sydney, das Holland Festival, die Herbstfestivals von Budapest, Paris und Warschau, MaerzMusik Berlin, Archipel Genf, Wien Modern, die Salzburger Festspiele und das Lincoln Center Festival in New York. Die Sinfonieorchester von Christchurch, Dublin, Hagen, Queensland und Tasmanien sowie die Radiosinfonieorchester des SWR und WDR haben Richard Haynes in den letzten 15 Jahren in verschiedenen Projekten als Soloklarinettist, Sektionsleiter oder Solist engagiert. Er unterhält eine regelmäßige internationale Konzerttätigkeit als Klarinettist des Ensemble Proton Bern, der Manufaktur für Aktuelle Musik, des Elision Ensemble und der Praesenz und ist regelmäßiger Gast bei der Basel Sinfonietta, dem Collegium Novum Zürich, dem Ensemble Musikfabrik, dem Klangforum Wien, dem Ensemble Resonanz, dem Ensemble Phoenix Basel und Stroma.

Neue Werke für Klarinette wurden für ihn geschrieben und ihm gewidmet von Trevor Bača, Richard Barrett, Aaron Cassidy, Robert Dahm, Chris Dench, Füsun Köksal, Liza Lim, Timothy McCormack, Michael Norris, Enno Poppe, Nemanja Radivojević, Rebecca Saunders, Dominique Schafer und Jeroen Speak. Er hat in großen Instrumental-, Opern- oder Theaterwerken mitgewirkt, wie CONSTRUCTION und Opening of the Mouth von Richard Barrett, Written on Skin von George Benjamin, EvE & ADINN von Sivan Cohen Elias, BEGEHREN von Beat Furrer, MONDPARSIFAL von Bernhard Lang, Moon Spirit Feasting und The Navigator von Liza Lim, Delusion of the Fury von Harry Partch, Chroma und Stasis von Rebecca Saunders, El Publico von Mauricio Sotelo und KLANG: Die 24 Stunden des Tages von Karlheinz Stockhausen. Richard Haynes unterhält seit 15 Jahren eine regelmäßige Konzerttätigkeit in Europa, den USA, Asien, Australien und Neuseeland und ist 1. Preisträger des Internationalen Concours Nicati Schweiz und Empfänger des Tschumi Musikpreises 2008.